VEM-Herbstexkursion 2019

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Mit donnerndem Pedalentritt über die Kanonenbahn
Ein schwerer Tritt... Noch ein schwerer Tritt... Langsam setzt sich unser Vehikel in Bewegung. Endlich dürfen auch wir loslegen und die minütlich anwachsende, kribbelnde Vorfreude in energische Taten umsetzen. Die Truppe da vor uns ist schon gut in Fahrt. Wir wollen ihnen in nichts nachstehen und treten noch einmal kräftig zu. Leichter geht es nun und wir beschleunigen merklich.
Wir, das ist die Besatzung der ersten von drei Fahrraddraisinen, auf denen sich je ein 4er-oder 5er-Grüppchen unseres Vereines zur Herbstexkursion 2019 eingefunden hat. Jeweils zwei Personen dürfen, wie auf einem Fahrrad mit Sattel und starrem Lenker ausgerüstet, in die Pedale treten. Der Rest sitzt dahinter auf einer Bank und genießt die Fahrt mit einem dieser urigen, bunten Gefährten auf zwei oder drei Achsen. Gut zehn Stück von ihnen wagen an diesem trockenen Oktobertag den Anstieg von "Lengenfeld unterm Stein" hinauf nach "Küllstedt". Und wir sind voller Begeisterung mittendrin.
Lustig schrabbert die Fahrraddraisine über das alte Gleis und unsere Gruppe ist sich einig, dass dieses Fahrgefühl wohl dem eines alten, zweiachsigen Güterwagens entsprechen muss.
Mit einem lachenden Blick zurück auf unsere wartenden "Verfolger" (ein Sichtabstand von ca. 50m soll stets eingehalten werden) schaukeln wir über die Ausfahrweiche. Im Anschluss beginnt ein 180°-Gleisbogen und linker Hand erscheint die restaurierte Blockwärterbude mit nicht mehr funktionsfähigem Einfahr-Formsignal und Bahnschranken. Unmittelbar danach befahren wir das erste Highlight der Tour: das 244m lange Lengenfelder Viadukt. In 24,5m Höhe, über den Dächern des Ortes, wechselt unser bis dato eher knarzendes Rollgeräusch in ein Donnern und Dröhnen. Zwischen den Schienen befinden sich Holzbohlen, welche ab und zu einen Blick in die Tiefe erhaschen lassen. Aufregend für die einen, schwindelerregend für die anderen! Von unten betrachtet sieht so eine Brücke nie besonders hoch aus...
Nach dem Kehrbogen folgt ein aufgelassener, mit langen Schrankenbäumen bestückter Bahnübergang. Schaut man kurz zuvor noch nach links, kann man über den Ort hinweg, auf der anderen Talseite, den Bahnhof und somit unseren Startpunkt erblicken. Gute Späher erkennen sogar ihr Auto auf dem Parkplatz bei dem ausgedienten, historischen Bahnpostwagen, der dem Ticketverkauf für diese Erlebnis(rad)tour dient. An den letzten Häusern Lengenfelds wandelt sich die Wiesenlandschaft und unser Gleis führt nun hinein in dichten Mischwald, der uns bis zum Ziel begleiten wird. Deutlich spürt man die fordernde Streckensteigung in den Gliedmaßen und erste Schnaufer und Keucher der "Pedalisten" sind zu vernehmen.
Jedoch nur kurz, denn schon treibt die Euphorie der ersten Tunnelbefahrung neue Energie in die rhythmisch stampfenden Beine. Vor uns öffnet sich das mächtige Portal des Entenberg-Tunnels. Wie ein großer Moloch verschluckt es eine Draisine nach der anderen...
Hinein geht es in die Dunkelheit...
Umrahmt von altem Gemäuer und Gestein...
Für einen Augenblick ist künstliche Nacht, dann schalten sich automatisch die Frontscheinwerfer und Rücklichter an den Draisinchen ein, wodurch wir den Abstand zu unseren Vorderleuten wieder bestens erkennen können.
Nach dem Verlassen des Stollens bekommt man ein erstes Gefühl für diese erlebnisreiche Fahrt. Dank des gemächlichen Tempos hat man ausreichend Zeit, das Trassenbett, die Tunnelportale, Einschnitte und Stützmauern zu bestaunen.

Vor dem inneren Auge beginnt ein Zeitsprung. Man versetzt sich zurück in die 70er Jahre des 19. Jahrhunderts und ruft sich die Ironie der Sinnhaftigkeit dieser Bahnstrecke ins Gedächtnis.
Ursprünglich vorgesehen als militärisch - strategische Eisenbahnverbindung (daher auch der umgangssprachliche Name KANONENBAHN) des preußischen Staates von Berlin über Güsten, Wetzlar, Koblenz und Trier in die eroberten Besatzungsgebiete um das französische Metz, verlor die komplett zweigleisig trassierte Linie kurz nach ihrer durchgehenden Eröffnung um 1880 bereits ihre angedachte Bedeutung. Preußen hatte zwischenzeitlich private Eisenbahngesellschaften verstaatlicht, welche nun deutlich bessere Alternativverbindungen zur Kanonenbahn darstellten. Einen nennenswerten, durchgehenden Zugbetrieb hat es somit nie gegeben. Ganz sinnlos war der Bau der 805 km langen Gesamtstrecke, fernab der großen Ballungsgebiete, dennoch nicht. Schließlich wurde an bereits bestehende Linien angeknüpft und somit wurde das Gesamtnetz engmaschiger. Im Laufe der Zeit entwickelten sich die einzelnen Zwischenabschnitte aber recht unterschiedlich, vor allem nach der deutschen Teilung. So fuhr auf diesem Teilstück von Leinefelde über Küllstedt und Lengenfeld planmäßig 1996 der letzte Zug nach Geismar.

Und nun fahren, besser gesagt rumpeln wir mit unserer Draisine über dieses marode Gleis. Man fragt sich berechtigter Weise, ob nicht doch noch die ein oder andere Schwelle aus der Gründungszeit hier im Schotterbett ruht. Ihrem Aussehen zufolge ein durchaus nachvollziehbarer Gedanke. Apropos Aussehen. Unseren "Treteseln" würde eine Ruhepause ganz gut tun und so wird während der Fahrt einfach flugs die "Antriebsmannschaft" ausgetauscht. Das Wägelchen bietet Platz genug, ohne das für dieses Manöver ein Anhalten und somit Aufhalten der "Nachtretenden" von Nöten wäre. Mit frischen Beinen werden in kurvenreicher, stets ansteigender und abwechslungsreicher Streckenlage die Haltepunkte Großbartloff und Effelder sowie die weiteren Tunnel Heiligenberg, Mühleberg I und Mühleberg II passiert.
Schnell haben sich vor allem bei den jüngeren Teilnehmern die Tunneldurchfahrten zu den beliebtesten Ereignissen entwickelt. Und so ist es wenig verwunderlich, dass die Durchquerung des Küllstedter Tunnels mit seinen 1530m Länge den Höhepunkt der Exkursion darstellt. Leider ist es nicht mehr ganz so aufregend wie vor zwei Jahren, denn mittlerweile ist der auf dem zweiten Planum angelegte, offizielle Kanonenbahn-Radweg in den Tunnelabschnitten durchgängig mit Straßenlaternen ausgeleuchtet. Kurz darauf ist das Ziel Küllstedt erreicht und dort heißt es nun W und W -> Wenden der Draisinen und warten auf die Zeit der Rückfahrt.
Hinab dürfen dann pro Fahrzeug die auserwählten Bremser aktiv werden, denn ein altes Sprichwort besagt: "Wo viel bergauf, da viel bergab!" Und wer sich nach der Talfahrt ausgebremst fühlt, dem sei in der Lengenfelder Bahnhofswirtschaft ein hiesiges “Dampfbier“ bestens empfohlen.

Viele weitere Informationen und interessante Angebote rund um die Draisinentour und den Radweg der Kanonenbahn findet man auf:
www.erlebnis-draisine.de
www.bahntrassenradeln.de > Deutschland > Thüringen > TH02

Internetquellen: wikipedia
> Kanonenbahn
> Kanonenbahn-Radweg
> Küllstedter Tunnel
M. Walter
Bild 01:
Vorbildlich restauriert und gepflegt präsentiert sich das Empfangsgebäude von Lengenfeld unterm Stein, dem Ausgangspunkt aller 3 Routen der "Erlebnis Draisine".
Bild 02:
Bf Lengenfeld unterm Stein, Gleis 2 - 09:00 Uhr
"Naaaa, seid ihr alle da???"
Die Mannschaft ist aufgesattelt, belehrt und Abfahrbereit.
Pro Draisine ist ein volljähriger "Bremser" in Warnweste verantwortlich für den sicheren Fahrtverlauf.
Bild 03:
Der Kehrbogen ist noch nicht ganz beendet, da kann man das Lengenfelder Viadukt bereits in seiner ganzen Lenge... pardon... Länge bestaunen.
Dem Kenner sticht die tolle Fachwerkkonstruktion der Fischbauchträgersegmente ins Auge.
Bild 04:
Blumenpflücken während der Fahrt verboten - Von Anhalten und Fotos machen hat keiner was gesagt, hihi.
So ähnlich entstand Bild 03. Und wie man erkennen kann in mehrfacher Ausführung.
Bild 05:
Der zweite von 5 Tunneln bei der Bergfahrt, namentlich Mühleberg I.
Das schweizer Atomkraftwerk gleichen Namens haben wir von hier aus zum Glück nicht wahrnehmen können.
Bild 06:
Es ist schon ein erhebendes Gefühl, wenn man wie ein Inspektionstrupp so durch diese alten Gewölbe "radelt".
Der Radweg auf dem zweiten Planum ist ständiger Begleiter. Ein Wettrennen "Fahrrad gegen Draisine" ist aufgrund der Massenungleichheit allerdings nicht zu empfehlen.
Bild 07:
Die gezeigten Bilder können nur erahnen lassen, welchen Spaß es machte mit unseren "Treteseln" durch diese schöne, naturbelassene Waldlandschaft zu fahren.
Bild 08:
Im Gegensatz zum 13km entfernten Ausgangspunkt befindet sich das Empfangsgebäude von Küllstedt in nicht sehr repräsentativen Zustand.
Eine Abschirmung mit Zaun und Hecken macht die Haltung des Eigentümers zur Draisinenbahn deutlich.
Bild 09:
Bf Küllstedt, Gleis 2 - 11:00 Uhr
Im Folgenden soll das Wenden in 5 Schritten auf dieser Drehscheibe erläutert werden.
Bild 10:
Schritt 1:
Man steige geschlossen und vollzählig vor der Drehscheibe von der Draisine ab. Eine gewisse Erschöpfung nach anstrengender Bergfahrt sei gestattet.
Bild 11:
Schritt 2:
Man schiebe seitlich die Draisine auf die Drehscheibe und positioniere sie mittig. Anschließend klappe man die Auffahrschienen ein und verriegle selbige mit den seitlichen Haltebügeln.
Bild 12 & 13:
Schritt 3:
Unter Aufsicht wird mit zweifacher, mittlerer Manneskraft und frohen Mutes die Drehscheibe um 180° geschwenkt. Umstehende Personen meiden tunlichst den Gefahrenbereich.
Bild 14:
Schritt 4:
Nach erfolgter Wende befolge man die Anweisungen von Schritt 2, allerdings in umgekehrter Reihenfolge.
Bild 15:
Schritt 5:
Mit Freude aller Beteiligten über das vollbrachte Werk schiebe man nun die Draisine auf ihren angedachten Halteplatz.
Da bei der Rückfahrt die Drehscheibe nochmals überquert wird, führe man dies ausschließlich ohne Passagiere und nur seitlich schiebend durch.
Anschließend kann mit frischen Kräften die Talfahrt beginnen.
Bild 16:
Bunte Bäume, bunte Wagen.
"Die Letzten werden die Ersten sein."... denn wer zuletzt in Küllstedt ankam, darf um 12:00 Uhr als Erster zurück nach Lengenfeld starten. Da es nur ein Streckengleis gibt, gilt generelles Überholverbot, auch ohne entsprechende StvO-Beschilderung.
Bild 17:
Die Jahreszahl 1875 prangt über dem West-, 1879 über dem Ostportal des über 1,5km langen Tunnels von Küllstedt. Damit wird auf die 4-jährige Bauzeit verwiesen. Beide Portale besitzen Türmchen, die die Kunstfertigkeit der Erbauer bezeugen.
Bild 18:
Rasant erscheint die Talfahrt, doch die Draisinen sind in ihrer Rollgeschwindigkeit begrenzt und sicher.
Nur selten hat man die Möglichkeit einer so genauen Detailstudie von alten Tunnelröhren, wie bei unserem Ausflug hier.
Bild 19:
Treffpunkt Ostportal Heiligenbergtunnel - Draisine rein - Fahrrad raus.
Uns als Eisenbahnfreunden wäre ein echter Zugbetrieb natürlich viel lieber, aber auch so erfreut uns die sinnvolle Verwendung und somit Erhaltung der alten Bahnverbindung.
Bild 20:
Mustergültig, wie auf der Modelleisenbahn - Signal, Schrankenposten, Wohnhäuser und Landschaft.
Für die Draisinen ist das Einfahrsignal von Lengenfeld zwar bedeutungslos, aber dennoch ein sehr schmuckes Beiwerk.
Bild 21:
Nicht alle unserer 13 Clubmitglieder und vereinsnahen Personen haben es auf das obligatorische Gruppenbild geschafft. Dennoch wird allen Beteiligten diese "Fahrradtour" in bester Erinnerung bleiben.
Veröffentlicht am 15.06.2020